Frischer Wind aus Marseille

Tolle Frauen, krasse Sounds und internationales Flair auf der Babel Music XP 2024, Docks des Suds, Marseille, Frankreich, 28.-30.3.2024

3. Mai 2024

Lesezeit: 4 Minute(n)

Ende März fand in Marseille die Babel Music XP statt. Die Messe für globale Musik ist gleichzeitig Festival, denn die Showcases des offiziellen Programms sind als Konzerte auch dem einheimischen Publikum zugänglich. Das kam auch in diesem Jahr zuhauf.
Text und Fotos: Martina Zimmermann

Mit braven Zöpfchen und einem altmodischen Karokleid hantiert Ana Lua Caiano an der Beats-Soundmaschine auf einem Tisch mit Spitzendecke auf der Bühne im Espace Mirabeau, einem der drei Konzertsäle in den Marseiller Docks des Suds, in denen jeden Abend neun Konzerte und anschließend DJ-Sets präsentiert werden. Die Portugiesin trommelt, haut in die Tasten des Synthesizers, singt, tanzt und legt eine expressive One-Woman-Show hin, eine Art surrealistischen Elektrofolk – innovative Musik mit portugiesischen Traditionen, Rhythmen und Instrumenten. „Es gibt einige Bands, die die Tendenz zeigen, sich mit traditionellen und folkloristischen Elementen zu vergnügen und diese auf ein neues Terrain zu bringen“, stellt Direktor Olivier Rey fest.

Bis vor fünf Jahren hieß die Messe Babel Med und galt als Hotspot für Musik aus dem Mittelmeerraum. Das Konzept funktionierte vierzehn Jahre lang, dreißig Prozent der Bands kamen aus Marseille und der Region. Bei aller Kreativität sei das viel gewesen, meint der neue Direktor, der seither im Amt ist. „Ich glaube nicht, dass es jedes Jahr neun neue Bands aus Marseille gibt, die bereit sind, in ganz Europa auf Tournee zu gehen.“

Olivier Rey kennt das Musikgeschäft von der Pike auf, war selbst Musiker und jahrelang verantwortlich für die Kommunikation und Pressearbeit zweier wichtiger Events, des Festivals Fiesta des Suds und der Musikmesse Babel Med. Der neue Direktor setzte sich für eine Wiederbelebung der Messe ein, die erst coronabedingt, dann durch Subventionswegfall aussetzen musste und erst im letzten Jahr als Babel Music XP mit neuen Partnern (Region, Stadt, Centre national de la musique und vielen anderen Organisationen) wiederauferstand. „‚XP‘ wie ‚Export‘, ‚Expression‘ oder ‚Experience‘“, erklärt Rey. „Wenn wir früher Leute aus Lateinamerika anriefen, sagten die, eure Messe ist doch was fürs Mittelmeer.“ Der neue Name unterstreicht nun den internationalen Charakter. Das ist an den Ständen, im künstlerischen Programm und an den über 750 Musikprofis zu sehen: Die Produzentinnen, Künstler, Managerinnen, Organisationen, Journalisten kommen aus Armenien, Ghana, Tansania, Malawi, der Demokratischen Republik Kongo, Libanon, Brasilien … – und Deutschland.

Poundo

 

Babel Music XP knüpfe an die Tradition von Babel Med an, meint Birgit Ellinghaus, CEO von Alba Kultur (International Office for Global Music) in Köln. Schon immer hätte die Frankofonie im Mittelpunkt gestanden – zu dieser französischsprachigen Welt gehören der Mittelmeerraum, Afrika und Asien. „Auf kolonialkritischere Weise“, so die Deutsche, die als Jurorin mit weiteren Fachleuten im Komitee saß, das vorab aus 2.300 Bewerbungen die Bands auswählte, die 2024 im Programm waren. „Wir wollen mit den Kollegen der Frankofonie auf Augenhöhe neue Netzwerke schaffen.“ Dass eine Delegation aus Burkina Faso dabei ist, zeigt, dass die Kulturschaffenden sich nicht der politischen Diplomatie unterordnen wollen, die derzeit spannungsgeladene Beziehungen zu den ehemaligen Kolonien in Westafrika pflegen.

Der Begriff „Weltmusik“ gilt aus europäischer Sicht heute als zu ethnozentrisch. „Ein Typ aus Senegal macht Mbalax, nicht Weltmusik“, sagt Olivier Rey. „Heute erlauben wir uns, die Türen zu öffnen für libanesischen Rock, peruanischen Techno oder senegalesischen Hip-Hop.“ Rey will „Weltmusik aus den Schubladen befreien“.

The Naghash Ensemble of Armenia

 

Der Afrotrap Poundos fällt in diese Kategorie. Sie tanzt, singt, rappt im Dialog mit dem Percussionisten der senegalesischen Tama. Poundo haut auch mal selbst auf die Djembe ein, während der Schlagzeuger den Herzschlag des Publikums zum Klopfen bringt. Die französische Künstlerin, Sängerin, Komponistin, Tänzerin, Modemacherin hat Wurzeln in Senegal und Guinea-Bissau. Ihre multiplen Identitäten zeigen sich auch im Outfit: Sie trägt einen weißen Kimono mit asiatischen Schriftzeichen über kurzen Jeans, hat Perlen in der Zöpfchenfrisur. Sie singt auf Englisch oder rappt auf Mandjak und in anderen afrikanischen Sprachen. Frauen machen dieses Jahr 47 Prozent des Programms aus, freut sich Olivier Rey. Die Parität sei neben der „Exportierbarkeit“ ein weiteres Anliegen.

The Naghash Ensemble of Armenia spielt normalerweise in der Elbphilharmonie (am 14. Mai 2024) oder in der Pariser Philharmonie (im September 2024). Fast alle Musiker und Sängerinnen leben in Eriwan in Armenien. Der amerikanische Armenier John Hodian komponierte die zeitgenössische Orchestermusik mit Texten des Poeten Mkrtich Naghash aus dem vierzehnten Jahrhundert. „Ich hörte in Philadelphia Motown, Black Music, Urban Contemporary Music“, so Hodian, „aber mein eigenes Training war klassisch geprägt, und zu meinen Helden gehören auch Steve Reich und seine Minimal Music.“ Bei der Babel Music XP zeige das Orchester, „wie sich diese Musik wirklich anfühlt“, so Managerin Wiebke Zollmann über die „sehr familiäre Messe“. „Babel Music ist ein sehr sympathisches Dorf, da kennt man die Nachbarn und kommt mit fast allen ins Gespräch.“

Podiumsdiskussion über Vernetzung in Afrika

 

Den Austausch mit Agenturen, Musikschaffenden und Medienmenschen schätzt auch Amir Ahmadi von Kurdophone, einem Ensemble aus Wien, das zeitgenössische kurdische Musik spielt. In den neuen Kompositionen seien neben kurdischen Elementen auch Jazz, Modern Jazz und sogar Elektronik verarbeitet. „Wir versuchen, immer aktueller zu werden.“

Die Märkte für Weltmusik kümmerten sich bisher nicht um Electro, und Electrofestivals ignorierten die Bands der Weltmusik, obwohl viele Kunstschaffende diese Stilistiken vermischen. „Alle Festivals brauchen auch Künstler für die Afterpartys“, erklärt Rey. „Es gibt einen Markt, der bisher nicht bedient wurde.“ Der „Club Babel“ schafft Netzwerke, Freitag und Samstagnacht mixen nach zwei Uhr Electro-Acts, zum Beispiel DJane Sharouh, die mit allen Musikstilen des Mittelmeerraums auf den Dancefloor einlädt, um auf Electro-Samples vermischt mit feministischen Reden und Songs maghrebinischer Diven zu tanzen.

Die Autorin mit Olivier Rey

 

Tagsüber finden zahlreiche Podiumsdiskussionen statt, sogenannte Speedmeetings mit Delegationen aus Kamerun, Brasilien oder Libanon und auch ganz konkrete Begegnungen zum Beispiel mit der französischen Verwertungsgesellschaft SACEM oder anderen Organisationen, die für Kulturschaffende und Musikproduzent:innen zuständig sind. „Babel Music soll ein kollektives Instrument sein“, so Olivier Rey.

www.babelmusicxp.com

Ana Lua Caiano

1 Kommentar

  1. Was für eine schöne Idee von Olivier Rey! Ja, der Begriff „Weltmusik“ klingt alleine schon viel zu plakativ und wurde viel zu kolonial und arrogant gelebt. Das hat Martina Zimmermann hier sehr kompetent mit einfühlsamen Worten und Bildern herübergebracht. Dieses Musikfestival scheint mir gekonnt die diversen Musiker mit jeder seiner eigenen individuellen Kreativität aus den unterschiedlichen Kulturen der Welt zusammengeführt zu haben. Bravo allen Beteiligten, auch der Autorin dieses Artikels und Folker World, ein Beitrag für Respekt und Frieden in der Welt! Danke!

    Antworten

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Dir hat der Artikel gefallen?

Dieser Artikel ist für Dich kostenlos. Wenn Du unsere Arbeit unterstützenswert findest, magst Du unserem Team vielleicht mit einem einmaligen Betrag oder mit einer regelmäßigen Spende über Steady supporten. Das Wichtigste ist: Danke, dass Ihr uns lest!"

Unterstütze uns einmalig mit Paypal (an unseren Verlag: Fortes Medien GmbH)

Werbung

L